Türkischer Einmarsch in Syrien: Muss Deutschland im NATO-Bündnisfall selbst Krieg führen?

Mit Sorge gehen die Blick aktuell in den Norden Syriens. Dort ist die Türkei einmarschiert. Im schlimmsten Fall droht der NATO-Bündnisfall, bei dem Deutschland in den Krieg eintreten müsste.
- Die Türkei ist Mitglied des Verteidigungsbündnis Nato.
- Am 9. Oktober marschierten türkische Truppen in Nordsyrien ein, um die Kurdenmiliz YPG zu bekämpfen.
- Der syrische Diktator Baschar al-Assad beorderte daraufhin syrische Truppen ins Konfliktgebiet, um den Kurden beizustehen.
- Alle aktuellen Entwicklungen zum türkischen Einmarsch in Nordsyrien lesen Sie hier im News-Ticker.
Türkische Offensive in Syrien: Was ist genau passiert?
Seit dem 9. Oktober läuft im syrisch-türkischen Grenzgebiet eine seit langem geplante Militäroffensive der Türkei. Ankara begründet den international stark umstrittenen Einsatz mit Selbstverteidigung. Die Türkei betrachtet die Kurdenmiliz YPG sowie deren politischen Arm PYD als Terrororganisationen. Die YPG pflegt enge Kontakte zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, die auch in den USA und in Europa auf der Terrorliste steht.
Am Montag waren auch syrische Regierungstruppen von Präsident Baschar al-Assad in dem kurdisch kontrollierten Norden des Landes eingetroffen. Die „Syrischen Demokratischen Kräfte“ (SDF) hatten sich nach dem angekündigten Abzug der US-Truppen hilfesuchend an al-Assad gewandt, die Vereinbarung zugleich aber als „schmerzhaften Kompromiss“ bezeichnet.
Türkische Offensive in Syrien: Wer sind die wichtigsten Parteien im Konflikt?
YPG/SDF: Die kurdischen Volksschutzeinheiten, kurz YPG, sind die dominierende Kraft im Norden und Osten Syriens, wo sie im Laufe des mehr als achtjährigen Bürgerkriegs ein großes Gebiet an den Grenzen zur Türkei und zum Irak unter ihre Kontrolle bringen konnte. Dort haben die Kurden eine Selbstverwaltung mit Kantonen eingerichtet.
Die YPG-Miliz führt auch die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) an, in deren Reihen ebenfalls arabische Einheiten kämpfen. Die SDF waren in Syrien der wichtigste Partner der USA im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). In diesem Frühjahr nahmen SDF-Truppen im Osten Syriens die letzte IS-Hochburg ein. Sie sind gut trainiert, unter anderem von den USA, die sie auch mit Waffen ausgerüstet haben. Letztlich haben sie aber gegen das türkische Militär auch mangels Luftabwehr und schwerer Waffen wenig Chancen.
Die Türkei: Sie sieht in der YPG-Miliz einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit eine Terrororganisation. Die Strukturen, die die Kurden in Nordsyrien entlang der Grenze aufgebaut hatten, sind der Regierung ein Dorn im Auge. Man werde nicht zulassen, dass an der türkischen Grenze ein kurdischer „Terrorstaat“ entstehe, heißt es regelmäßig aus Ankara. Ziel der Offensive ist eine sogenannte Sicherheitszone, in der die Regierung auch Millionen syrische Flüchtlinge unterbringen will, die derzeit in der Türkei leben. Dort kippt die Gastfreundschaft der Türken, auch angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lage. Die Türkei hat in der Nato die zweitstärkste Armee nach den USA.
Syrische Rebellen: Sie haben nach acht Jahren Bürgerkrieg den größten Teil ihrer früheren Gebiete verloren und sind stark von ihrem Verbündeten Türkei abhängig. Das letzte große Rebellengebiet ist die Region um die Stadt Idlib im Nordwesten Syriens. Daneben sind Regierungsgegner auch in einem kleineren Grenzgebiet weiter nördlich aktiv, in das die Türkei bei früheren Offensiven eingerückt war, um den IS und die YPG von dort zu vertreiben. Unter türkischer Führung gaben sich die Rebellen dort den Namen Syrische Nationale Armee.
Syriens Regierung: Die Führung in Damaskus pflegt zur kurdischen YPG und PYD ein gespaltenes Verhältnis - teilweise kooperierten sie miteinander, teilweise bekämpften sie sich, je nach Interessenlage. In der Vergangenheit gab es Gespräche über eine engere Zusammenarbeit, die aber ergebnislos blieben. Nun ist sie auf den Hilferuf der Kurdenmilizen hin in den Konflikt eingetreten. Man werde der „türkischen Aggression auf syrischem Boden entgegentreten“, hieß es. Wie energisch sie die Türken bekämpfen würde, blieb zunächst unklar. Die Armee ist nach dem langen Bürgerkrieg schwach.
Eine düstere Prognose für Deutschland im Syrienkrieg hatte Sigmar Gabriel in der ZDF-Talkrunde bei Maybrit Illner. Er schreibt der Bundesregierung eine Mitschuld zu. Bundesaußenminister Heiko Maas bekam vor seinem Türkei Besuch außerdem eine Drohung via Twitter - von seinem türkischen Amtskollegen.
Türkische Offensive in Syrien: Welche Rollen spielen Russland und die USA?
Russland: Moskau ist im Bürgerkrieg ein zentraler Akteur. Russland unterstützt nicht nur die Regierung militärisch, sondern pflegt auch Kontakte zu den Kurden und verhandelt mit der Türkei und dem Iran über die politische Zukunft des Bürgerkriegslandes. Putin will die Einheit Syriens bewahren und al-Assad an der Macht stützen.
US-Präsident Donald Trump: Er hat dem türkischen Einmarsch in Nordsyrien den Weg bereitet, indem er nach einem Telefonat mit Erdogan US-Truppen aus dem Grenzgebiet zurückzog. Auf die harsche Kritik an dem Schritt auch aus den eigenen republikanischen Reihen antwortet Trump immer mit demselben Argument: Er habe stets deutlich gemacht, „dass ich diese endlosen, sinnlosen Kriege nicht kämpfen will - besonders jene, die den Vereinigten Staaten nicht nützen“. Trump will den Truppenrückzug aber nicht als Freifahrtschein für Erdogan verstanden wissen und droht immer wieder mit Sanktionen gegen die Türkei. Zunächst richteten sich die Maßnahmen gegen drei türkische Minister. Gleichzeitig hat Trump nach dem ersten Truppenabzug weitere Soldaten aus der Gegend zurückgezogen und Erdogan für den 13. November ins Weiße Haus eingeladen.
Türkische Offensive in Syrien: Was ist der NATO-Bündisfall?
Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn hat vor dem sogenannten NATO-Bündnisfall gewarnt. „Stellen Sie sich vor, Syrien oder Alliierte von Syrien schlagen zurück und greifen die Türkei an", sagte Asselborn. "Auf Deutsch heißt das, dass alle NATO-Länder, wenn die Türkei angegriffen würde, dann einspringen müssten, um der Türkei zu helfen.“ Aber warum wäre das der Fall?
Grund dafür ist Artikel 5 des NATO-Vertrags, der das Verhalten der NATO-Länder für den Fall regelt, dass eines von Ihnen angegriffen wird.
Bündnisfall in Syrien? Artikel 5 des NATO-Vertrags im Wortlaut
„Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.
Von jedem bewaffneten Angriff und allen daraufhin getroffenen Gegenmaßnahmen ist unverzüglich dem Sicherheitsrat Mitteilung zu machen. Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten.“
NATO-Bündnisfall: Wenn Syrien türkische Soldaten angreift - auch deutsche Bundeswehr gefordert
Greift Syrien also die Türkei oder türkische Soldaten an, müssten die anderen NATO-Mitglieder alles tun, „um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten“. Ein Angriff auf ein NATO-Land ist als Angriff auf alle NATO-Staaten zu verstehen. Auch Waffengewalt ist eine Maßnahme, die in diesem Rahmen notwendig sein kann.
Da auch Deutschland seit 1955 Mitglied der NATO ist (Türkei seit 1952), müsste man dem Bündnispartner zur Seite stehen und im schlimmsten Fall in einen Krieg eintreten. Bisher trat der Bündnisfall erst ein einziges Mal ein - nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA.
Türkische Offensive in Syrien: Hat nicht die Türkei zuerst angegriffen?
An dieser Stelle wird es knifflig, weil die verschiedenen Parteien, die an dem Konflikt beteiligt sind, hier unterschiedliche Ansichten haben. Die Folgen, die sich daraus ergeben würden, sind ebenfalls verschieden.
Grundsätzlich ist es ein Verstoß gegen das Völkerrecht, in ein anderes Land einzumarschieren. In Artikel 2, Ziffer 4 der UN-Charta steht folgender Satz: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“
Die Türkei hingegen rechtfertigt ihre Offensive mit der Bekämpfung von Terror, zu deren Zweck man auf syrisches Staatgebiet marschieren musste. Die Kurdenmiliz YPG sowie deren politischer Arm PYD werden von der Türkei als Terrororganisationen angesehen.
Diese Ansicht teilen die anderen NATO-Mitglieder aber allem Anschein nach nicht und forderten die Türkei mehrfach dazu auf, ihre Offensive zu stoppen und das Militär aus dem Norden Syriens zurückzuziehen.
Türkei gegen Syrien: SPD-Sprecher sieht keine Gefahr für einen NATO-Bündnisfall für die Bundeswehr
Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD, schließt einen NATO-Bündnisfall im Zusammenhang mit dem türkischen Einmarsch in Nordsyrien deshalb aus. „Wenn die Türkei völkerrechtswidrig in ein Nachbarland einmarschiert und dann in Kämpfe verwickelt wird, dann ist das kein Bündnisfall“, sagte er dem Deutschlandfunk am Dienstag. „Ein Bündnisfall muss einstimmig festgestellt werden und ich sehe nicht, dass die anderen NATO-Partner einen solchen Bündnisfall feststellen.“
SPD Fraktionsvorsitzender Mützenich kritisiert offen die NATO-Mitgliedschaft der Türkei.
Türkische Offensive in Syrien: Warum bekommt die Türkei nicht mehr Druck aus EU und Nato?
Die Türkei ist ein wertvoller Partner, der vor allem für die 26 Mitgliedsstaaten in Europa, eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung der Flüchtlingskrise spielt. Das EU-Türkei-Abkommen vom 18. März 2016 hat die Zahl der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, deutlich reduziert.
Um dieses Abkommen nicht zu gefährden und die Flüchtlingsmigration in die EU nicht zu erhöhen, agiert Europa bislang eher defensiv. Ein erster Schritt die Ablehnung der Offensive zu zeigen ist der Exportstopp von Waffen in die Türkei, den sich Deutschland, Frankreich, Niederlande, Finnland und Schweden auferlegt.
Auf der anderen Seite setzt die Türkei die syrischen Flüchtlinge als Druckmittel ein. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu drohte gegenüber der Deutschen Welle damit, Millionen syrische Flüchtlinge aus der Türkei über die Grenze nach Europa zu lassen: "Natürlich liegt diese Option auf dem Tisch."
Europa befindet sich aktuell in einer Zwickmühle. Nach dem Einmarsch der Türkei in Syrien am 9. Oktober gab es bisher lediglich Absichtserklärungen und Stellungnahmen. Spätestens, wenn Syrien zurückschlägt, müssen sich Europa und die NATO entscheiden, was sie unternehmen werden.
Mittlerweile ist der türkische-kurdische Konflikt auch in Deutschland angekommen - bei einer Schlägerei mit 60 Beteiligten in Herne griff ein Polizist beinahe zum Äußersten. Aus Protest gegen den Syrien-Einmarsch der Türkei attackierten Kurden in Herne mehrere türkische Läden. Auch in anderen Städten kam es zu Zwischenfällen: So lieferten sich kurdische Demonstranten und türkischstämmige Anwohner eine Massenschlägerei in Lüdenscheid, wie come-on.de* berichtet.
Infolge des eskalierenden Konflikts in Syrien strömen immer mehr Flüchtlinge in Richtung EU*. Die Türkei hat die Grenzen wegen der neuen Flüchtlingswelle geöffnet.
Nach Türkei-Einmarsch in Syrien: VW reagiert mit drastischer Maßnahme gegen Erdogan.
sh mit dpa
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