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Türkischer Botschafter im Interview: „Das ist ein Jahrhundert-Erdbeben“

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Von: Anne-Christine Merholz, Yağmur Ekim Çay, Anna-Katharina Ahnefeld

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Dem Erdbeben in der Türkei und Nordsyrien sind mittlerweile mehr als 20.000 Menschen zum Opfer gefallen. Der türkische Botschafter spricht von einem „Jahrhundert-Erdbeben“.

Berlin – Der türkische Botschafter in Deutschland, Ahmet Başar Şen, spricht mit IPPEN.MEDIA über das verheerende Naturereignis im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Auch wenn die internationalen Hilfen auf Hochtouren laufen, ist die Situation laut Botschafter Şen fatal. Es fehlt an Medikamenten, Decken, Zelten. Er bittet eindringlich um Hilfen. Auch der Nordwesten von Syrien ist hart von dem Erdbeben getroffen. Doch der ist zum großen Teil noch immer von Hilfen abgeschnitten.

Erdbeben in der Türkei und Syrien: Türkischer Botschafter dankt Deutschland für Unterstützung

Wie groß sind die Schäden vor Ort?

Es ist eine unfassbare Katastrophe. Nach jetzigem Stand sind mehr als 16.000 Menschen verstorben und mehr als 66.000 sind verletzt. Hunderttausende wurden unter den harten Winterbedingungen obdachlos. Experten gehen davon aus, dass diese Zahlen noch weiter steigen könnten, da die Such- und Rettungsarbeiten in den Katastrophengebieten noch andauern. Nach dem Erdbeben hat die Türkei sofort um internationale Nothilfe gebeten, und in zehn betroffenen Provinzen wurde der Ausnahmezustand ausgerufen.

Welche konkreten Hilfsangebote hat die türkische Regierung für die Menschen vor Ort?

Derzeit werden alle Ressourcen in der Türkei mobilisiert, um unsere Menschen aus den Trümmern zu retten und die Überlebenden zu versorgen. Laut der türkischen Katastrophenschutzbehörde sind über 113.200 Helfer vor Ort im Einsatz. Aktuell wurden 5.557 Fahrzeuge sowie Abschleppwagen und Kräne in das Katastrophengebiet gebracht, um die Suche und Rettungsarbeiten zu unterstützen. Retter und lebensnotwendige Güter werden über eine Luftbrücke mit insgesamt 160 Flugzeugen der Luftwaffe in die Erdbebengebiete transportiert. Und wir haben natürlich zahlreiche Notunterkünfte errichtet. Bislang sind insgesamt mehr als 137.929 Zelte und 1.255.500 Decken in die vom Erdbeben schwer betroffenen Regionen geschickt worden.

Wie kann Deutschland die Türkei unterstützen?

Wir brauchen natürlich Hilfskräfte, also spezialisierte Rettungsteams und medizinische Ersthelfer, die sich an Such- und Rettungsmaßnahmen beteiligen können, sowie Notunterkünfte und Sachleistungen.

Was braucht die türkische Community in Deutschland? Kann man hier die Hilfsaktionen unterstützen?

Um den Erdbebenopfern die notwendige Sachhilfe zukommen zu lassen, brauchen wir auch logistische Unterstützung. Der deutschen Gesellschaft und Regierung wollen wir uns für ihre starke Solidarität danken. In solch schwierigen Zeiten ist es gut zu wissen, dass wir uns auf unsere Freunde in Europa uneingeschränkt verlassen können.

Türkei: Berichte über blockierte Sachspenden für Erdbebenopfer – Botschafter weist Vorwürfe von sich

Die türkische Botschaft in Deutschland hat gestern eine Liste mit den dringend gebrauchten Sachspenden veröffentlicht. Doch gibt es Berichte darüber, dass alle Sachspenden außer von der AFAD – der zentralen staatlichen Katastrophenschutzbehörde – blockiert werden. Was sind die Gründe dafür?

Im Gegenteil, jede einzelne Sachspende ist sehr willkommen. Es müssen jedoch einige formale Voraussetzungen erfüllt werden, damit die Zollformalitäten vereinfacht werden und die jeweiligen Sachspenden schnell die betroffenen Menschen erreichen. Zum Beispiel sollte eine Liste über den Inhalt der Fracht erstellt und von einem unserer 13 Generalkonsulate in vereinfachtem Verfahren genehmigt werden. Die AFAD koordiniert alle Maßnahmen, darunter auch die Verteilung von Hilfsgütern. Jeder kann der AFAD Sachspenden schicken.

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Der türkische Botschafter für Deutschland, Ahmet Başar Şen © picture alliance/dpa | Wolfgang Kumm

Kommen die Sachspenden aus Deutschland dort an?

Natürlich! Von Deutschland aus sind Sendungen per LKW oder Flugzeug bereits unterwegs. Manche LKWs haben Grenzübergänge passiert. Angesichts der großen Hilfsbereitschaft aus Deutschland sehen wir, dass viele Sachspenden noch folgen werden. Es gibt keine Probleme bei den Zollkontrollen, nur manche Verzögerungen wegen zu großem Andrang an Grenzübergängen zur Türkei.

Erdbebenkatastrophe in der Türkei
Retter durchsuchen ein nach dem Erdbeben zerstörtes Gebäude. Die Rettungskräfte kämpfen gegen die Zeit. Mit jeder Stunde, die seit dem Erdbeben verstreicht, sinken die Chancen, noch Lebende unter den Trümmern zu finden © Kamran Jebreili dpa/pa/ap

Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien: Ankaras Botschafter verneint Blockade nach Syrien

Hätten viele Tote verhindert werden können, es soll Warnungen gegeben haben?

Wir wissen, dass die Türkei auf vielen Bruchlinien liegt. Was wir jetzt erlebt haben, ist aber ein Jahrhundert-Erdbeben. Der genaue Zeitpunkt eines Erdbebens kann mit der heutigen Technologie noch nicht vorausgesagt werden.

Beeinflusst die Erdbebenkatastrophe den Wahlkampf in der Türkei?

In der Türkei wurde eine siebentägige Staatstrauer ausgerufen. Wir haben unsere Flaggen im Land und in unseren Vertretungen in der ganzen Welt auf Halbmast gesenkt. Wir trauern. Unsere Priorität ist es, Leben zu retten und unsere Menschen gesund durch diesen Winter zu bringen. Alles andere steht im Moment hinten an.

Könnte die Wahl sogar verschoben werden?

Die Türkei hat eine Verfassungsordnung, da sind Regeln und Fristen vorgesehen.

Teilweise wurden Social-Media-Dienste in der Türkei eingeschränkt, dabei sind diese Kanäle essenziell für Hilferufe, warum dieser Schritt?

Hier geht es nicht darum, Social-Media-Dienste per se zu unterbinden. Sondern es handelt sich um Maßnahmen gegen Desinformationskampagnen. Leider kursieren viele irreführende, falsche Informationen über die Folgen des Erdbebens im Netz.

Es gibt Berichte, dass Istanbul und Ankara Sachspenden nach Syrien blockieren …

Ganz im Gegenteil! Wir solidarisieren uns mit dem syrischen Volk. Die türkischen Behörden machen keine Unterscheidung zwischen den Menschen. Wir tun wirklich alles Menschenmögliche. Wir hatten am Anfang sogar Schwierigkeiten, unsere eigenen Provinzen in der Grenzregion zu Nordwestsyrien zu erreichen. Die Folgen der Katastrophe sind noch zu groß, zu verheerend. Im Rahmen unserer Möglichkeiten helfen wir aber selbstverständlich allen, wo wir können. Auf syrischer Seite sind einige Straßen beschädigt, die zu unserem Grenzübergang führen. Um Hilfsleistungen in diese Gebiete zu erleichtern, arbeiten wir an der Öffnung von zwei weiteren Grenzübergängen in der Provinz Kilis.

So können Sie den Erdbebenopfern in der Türkei und Syrien helfen:

In der Türkei und Syrien spielt sich nach dem verheerenden Erdbeben eine humanitäre Katastrophe ab. Wer die Betroffenen mit Spenden unterstützen möchte, kann das mithilfe folgender Organisationen tun.

Aktion Deutschland Hilft: Bank für Sozialwirtschaft, IBAN: DE62 3702 0500 0000 1020 30, Stichwort: Erdbeben Türkei und Syrien, www.aktion-deutschland-hilft.de

Ärzte ohne Grenzen: Deutsche Sektion, Bank für Sozialwirtschaft, IBAN: DE72 3702 0500 0009 7097 00, www.aerzte-ohne-grenzen.de

Deutsches Rotes Kreuz: Bank für Sozialwirtschaft, IBAN: DE63 3702 0500 0005 0233 07, Stichwort: Nothilfe Erdbeben Türkei und Syrien, www.drk.de

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