Eine Million Kinder in Tibet betroffen: UN kritisieren chinesische Zwangsinternate
UN-Experten werfen Chinas Regierung vor, Hunderttausende Kinder in Tibet von ihren Eltern zu trennen, um sie zu „assimilieren“. Peking weist die Behauptungen als „Lügen“ zurück.
München/Peking – Wenn Xi Jinping über die vielen Völker spricht, die in China leben, bemüht er gerne das Bild vom Granatapfel. Die Han-Chinesen und die offiziell 55 ethnischen Minderheiten im Land, sagt Chinas Staats- und Parteichef immer wieder, müssten „wie die Saaten eines Granatapfels sein – eng zusammengebunden in einer chinesischen Nation“. Viele Tibeterinnen und Tibeter aber fühlen sich zunehmend eingeschnürt. Besonders zu leiden unter der chinesischen Herrschaft haben offenbar vor allem Kinder, die von ihren Eltern getrennt werden, um in Zwangsinternaten unterrichtet zu werden. Das legt ein neuer UN-Bericht nahe, der von „rund einer Million Kindern“ spricht, die von den Maßnahmen betroffen seien.
Das Internatssystem ziele darauf ab, tibetische Kinder „an die Han-Mehrheitskultur zu assimilieren“, so die drei UN-Sonderberichterstatter, die an der Erstellung des Berichts beteiligt waren. Ihr Vorwurf: Kinder in Tibet würden dazu gezwungen, auf den Internaten ausschließlich Chinesisch zu sprechen. „Infolgedessen verlieren die tibetischen Kinder die Fähigkeit, ihre Muttersprache zu beherrschen und sich mit ihren Eltern und Großeltern in der tibetischen Sprache zu verständigen, was zu ihrer Assimilierung und zur Aushöhlung ihrer Identität beiträgt.“ Sonderberichterstatter der UN sind unbezahlte und unabhängige Expertinnen und Experten, die vom Menschenrechtsrat der UN eingesetzt werden.
Zwangsinternate in China? Peking spricht von „Lügen und Gerüchten“
Chinas Außenamtssprecherin Mao Ning wies die Vorwürfe am Mittwoch zurück. Die UN-Experten hätten „China böswillig angegriffen und diskreditiert sowie Lügen und Gerüchte unterstützt“, so Mao. Die Vorwürfe sind indes nicht neu. So sagte im vergangenen Jahr Penpa Tsering, Chef der tibetischen Exilregierung, Xi Jinping versuche, „die Identität der Tibeter zu zerstören, indem er die tibetische Sprache unterdrückt“. Im Interview mit der Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA äußerte Tsering die Befürchtung, „in zehn oder 15 Jahren wird es Menschen in Tibet geben, die ihre eigene Sprache nicht mehr sprechen“, weil sie als Kinder in chinesischen Internaten „indoktriniert“ worden seien.
Tibet
Tibet und China verbindet eine lange Geschichte, in deren Verlauf die beiden Länder politisch und kulturell eng miteinander verbunden waren. Nach dem Ende des chinesischen Kaiserreichs 1912 war Tibet faktisch ein unabhängiges Land. 1950, ein Jahr nach Gründung der Volksrepublik China, marschierte die chinesische Volksbefreiungsarmee in Tibet ein und besetzte das „Dach der Welt“. 1959 floh der Dalai Lama, das geistige und politische Oberhaupt der Tibeter, ins Exil ins nordindische Dharamsala, wo er bis heute lebt. Vor allem in den Jahren der Kulturrevolution (1966-1976) wurden in Tibet unzählige Klöster und andere Kulturschätze zerstört, Hunderttausende Menschen wurden ermordet. Tibet ist heute eine der ärmsten chinesischen Provinzen.
Thinlay Chukki, Repräsentantin des Tibet-Büros in Genf, sagte am Mittwoch bei einer öffentlichen Anhörung, die Zwangsinternate würden „nicht nur die heutige Generation betreffen, sondern auch die zukünftigen“. Tenzin Lekshay, der Sprecher der tibetischen Exilregierung, sagte bei der Anhörung, Menschen, die sich für die Erhaltung der traditionellen tibetischen Kultur einsetzten, würden „verfolgt, gefoltert oder eingesperrt“.
FDP-Politikerin: Internate in Tibet sind „weitere grobe Menschenrechtsverletzung“
Die UN-Sonderberichterstatter hatten sich bereits im November in einem Schreiben an die chinesische Regierung gewandt. Man besitze Informationen, dass „die chinesischen Behörden eine groß angelegte Kampagne zur Assimilierung der tibetischen Kultur und Sprache betreiben“, hieß es damals in dem Brief. Eine Antwort steht offenbar bislang aus, jedenfalls wollte Chinas Außenministerium eine entsprechende Presseanfrage zuletzt nicht beantworten.

Kritik am Internatssystem kommt auch aus Deutschland. So sprach die Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestags, Renata Alt, von „einer weiteren groben Menschenrechtsverletzung, die die Kommunistische Partei an der tibetischen Bevölkerung begeht“. Die Bundesrepublik, so die FDP-Politikerin, „darf nicht zuschauen, während die tibetische Kultur systematisch ausgelöscht wird“. Eine Strategie zum Umgang mit China sei „dringender denn je“.
Die Bundesregierung arbeitet derzeit an einer China-Strategie, in der Leitlinien für den Umgang mit der Volksrepublik festgelegt werden sollen. In dem Dokument werde die Frage der Menschenrechte „eine wichtige Rolle spielen“, hieß es auf Anfrage unserer Redaktion aus dem Auswärtigen Amt. In der Kritik steht neben den Zuständen in Tibet auch die Lage in der Provinz Xinjiang, in der Hunderttausende Uiguren sowie Angehörige anderer Minderheiten in Umerziehungslagern inhaftiert worden sein sollen.