Droht ein Flächenbrand auf dem Westbalkan? „Putins Krieg in der Ukraine ist ein Gamechanger“

In den vergangenen Jahren weitete Russland seinen Einfluss auf den Westbalkan immer mehr aus. Bis zu Putins Invasionskrieg in der Ukraine.
Sarajevo/Köln – Kurz vor Weihnachten drohte die Lage auf dem Westbalkan zu eskalieren. Militante aus dem serbisch besiedelten Norden des Kosovo errichteten Straßenblockaden in der zweigeteilten Stadt Mitrovica. Serbiens Präsident Aleksandar Vučić versetzte seine Armee in erhöhte Alarmbereitschaft. Doch die EU übte deutlichen Druck auf Serbien aus. Ein deutsch-französischer Plan sieht die Normalisierung des Verhältnisses zwischen Belgrad und Pristina vor. Und sie stellten Serbiens Präsidenten vor die Wahl: Entweder er nimmt den Plan an, oder es droht der Abzug von Investitionen und der Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen.
Über die komplexe Gemengelage auf dem Westbalkan, den Einfluss Wladimir Putins und die Rolle der EU spricht der Münchner Merkur von IPPEN.MEDIA mit Christian Schmidt (CSU), dem hohen Repräsentanten des Nachbarlandes Bosnien-Herzegowina.
Kosovo: EU setzt Serbien unter Druck – aktuell keine Gefahr eines Flächenbrands auf dem Westbalkan
Wie beurteilen Sie die aktuelle Wende im Kosovo-Konflikt? Serbiens Präsident Vučić deutete an, den deutsch-französischen Plan anzunehmen.
Die Situation im Kosovo bewegt sich, der deutsch-französische Vorschlag scheint eine gute Basis zu sein. Aktuell habe ich nicht den Eindruck, dass aus dem Konflikt zwischen Serbien und Kosovo ein Flächenbrand auf dem Westbalkan entstehen könnte. Aber wir wissen, dass sich das in dieser Region sehr schnell ändern kann. Im Vergleich zu der Blockadesituation im Dezember erleben wir jetzt jedoch einen großen Fortschritt.
Hat Sie denn die Reaktion des serbischen Präsidenten überrascht? Vučić gilt eigentlich als Russland-nah, nicht als Friedensbotschafter der EU.
Nein, das hat mich nicht überrascht, abgesehen von seinem freundlichen öffentlichen Auftreten in dieser Causa. Ich hätte nicht erwartet, dass er seine Andeutung, im Kosovo-Streit einzulenken und den deutsch-französischen Plan für die Normalisierung des Verhältnisses anzunehmen, so ruhig formuliert. Doch er versteht offenbar, dass er sich mit der Annahme des Vorschlags einen strategischen Vorteil verschafft. Denn wenn er ablehnt, hätte er nicht viele andere Optionen. Doch die Probleme für Vučić fangen jetzt erst richtig an: Es bedarf eines hohen Maßes an Zusammenarbeit mit Institutionen des Kosovo. Eine komplette Negierung der Existenz des Kosovos ist damit nicht mehr möglich. Jetzt gilt abzuwarten, wie sich die kosovarische Regierung verhalten wird.
Sie deuten an, dass die EU Vučić wenig Handlungsspielraum ließ. Hat Brüssel Serbien erpresst?
Das sehe ich nicht so. Die EU hat jedoch eines unverständlich klargemacht: Die ständigen Krisen zwischen Serbien und Kosovo kann sie nicht länger akzeptieren. Insofern: Politischer Druck ja, aber im Sinne der konstruktiven Zusammenarbeit.
Darum geht es:
Der Anlass für die Unruhen im November und Dezember klingt zunächst harmlos. Der Zankapfel: ein Kennzeichen. Die Regierung des Kosovos ordnete an, dass die Kosovo-Serben im Norden ihre serbischen Autokennzeichen gegen kosovarische eintauschen müssen. Brüssel griff deeskalierend ein, doch dann forderte Serbien, eine serbische Gemeindeverwaltung einzurichten, wie vor zehn Jahren in Brüssel ausgehandelt. Das will wiederum der Kosovo nicht, aus Angst vor einer zu großen Einflussnahme Serbiens.
Aber natürlich ist das nur ein kleiner Teil der Geschichte. Seit Jahren rumort es zwischen Serbien und Kosovo. Belgrad erkennt den Kosovo nicht als eigenen Staat an, denn das Gebiet gehörte früher zu Serbien. Heute wird das Land, das sich 2008 für unabhängig erklärte, größtenteils von Albanerinnen und Albanern bewohnt, aber eben nicht nur. Im Norden des Kosovos leben viele Serben. Das hat Konfliktpotential. Und dann ist da noch Russland, das seinen Einfluss auf den Westbalkan immer weiter ausbaute. Bis zu Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Vom deutsch-französischen Plan selbst ist nur das grobe Gerüst bekannt, jedoch geht es offenbar darum, dass sich die beiden Länder zwar nicht anerkennen, jedoch akzeptieren. Das würde ein Ende der Blockade Serbiens bei der Aufnahme des Kosovo in internationale Organisationen bedeuten.
Putin: Russland baute Einfluss in Südosteuropa jahrelang aus – doch Ukraine-Krieg wird Gamechanger
Noch im Dezember ging die Angst um, dass es auf dem Westbalkan zu einem Flächenbrand kommen könnte. Ein weiterer Konfliktherd in Europa. Sehen Sie diese Gefahr – zumindest im Moment – gebannt?
Insgesamt waren 2022 zwei positive Entwicklungen zu beobachten. Erstens, so widersprüchlich es erscheinen mag: Putins Krieg in der Ukraine ist ein Gamechanger. Von Serbien bis Montenegro und Albanien ist klar: Wir wollen nicht in diesen Krieg hineingezogen werden. Darüber herrscht aktuell mehr Einigkeit, als vielleicht von außen wahrzunehmen ist. Zweitens, verstärkte regionale Zusammenarbeit in der Region und die Westbalkan-Gipfel der EU zeigen sichtbare Fortschritte, speziell im Klimaschutz, der Energieversorgung und der gegenseitigen Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen und Reisedokumenten. Das klingt nicht revolutionär, aber sie sind eine deutliche Erleichterung für die Menschen.
Jahrelang baute Russland seinen Einfluss in den instabilen Ländern Südosteuropas aus. Er traf auf fruchtbaren Boden, der Westbalkan war und ist frustriert über die langsamen Prozesse der EU-Integration. Ist die Akzeptanz des deutsch-französischen Plans eine Niederlage für Wladimir Putin?
Putins negativer Einfluss auf die Region hat paradoxerweise positiv auf den Zusammenhalt gewirkt. Die großen Ankündigungen Russlands, insbesondere im Bereich der billigen Energie, sind nicht eingetreten – eines der wenigen Mittel, die Wladimir Putin noch hat. Ihm fehlt es an nachhaltigen finanziellen Mitteln, um in der Region, vornehmlich Serbien oder Bosnien-Herzegowina, seinen Einfluss zu behalten. Erkennbar war das auch an der klaren Positionierung von Serbiens Präsident Vučić zur Eröffnung eines Rekrutierungsbüros der Wagner-Gruppe in Belgrad. Der serbische Präsident hat eine klare rote Linie aufgezeigt: keine Kriegsbeteiligung und keine Anwerbung junger Menschen in der Region für Kriegseinsätze. Diese Versuche gab es, und sie haben nicht gefruchtet. Das war keine Selbstverständlichkeit.
Die rote Linie: Keine Kriegsbeteiligung. Der Westbalkan hat im Gegensatz zu Mitteleuropa ja in den vergangenen Jahrzehnten Krieg erleben müssen. Prägt das die Einstellung zum Ukraine-Krieg?
Den Leuten, insbesondere in Bosnien-Herzegowina, steckt der Jugoslawien-Krieg noch in den Knochen. Die Menschen wollen nach diesen traumatischen Erfahrungen nicht in weitere Kriegshandlungen hineingezogen werden. Das ist der Boden, auf dem der Widerstand gegen Putin wächst.