Auch in die Großstadt Masar-i-Scharif, wo die Bundeswehr noch bis Juni ihr Hauptquartier hatte, versuchten die Taliban am Samstag einzudringen. Sie konnten aber nach Angaben örtlicher Politiker zurückgedrängt werden. Der Ex-Provinzgouverneur Mohammad Atta Nur und der frühere Kriegsfürst Abdul Raschid Dostum haben in der Nordprovinz Balch, in der Masar-i-Scharif liegt, eine Verteidigungslinie aufgebaut. Die Taliban haben umliegende Provinzen bereits eingenommen.
Seit der Entscheidung über den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan Mitte April haben die Taliban große Teile des Landes erobert. Mittlerweile stehen 20 der 34 Provinzhauptstädte unter ihrer Kontrolle. Landesweit gingen die Kämpfe am Samstag in mindestens fünf Provinzen weiter. Die militanten Islamisten konnten zwei kleine Provinzhauptstädte übernehmen.
Scharana in der Provinz Paktika mit geschätzt 66.000 Einwohnern sei nach Vermittlung Ältester den Taliban kampflos übergeben worden, bestätigten lokale Behördenvertreter. Wenig später bestätigten mehrere lokale Behördenvertreter, dass Regierungsvertreter und Sicherheitskräfte auch Asadabad, die Hauptstadt der Provinz Kunar im Osten des Landes mit geschätzt 40.000 Einwohnern, verlassen hätten. Man habe so zivile Opfer und Zerstörung verhindern wollen.
Zuvor waren mit Herat und Kandahar bereits die dritt- und die zweitgrößte Stadt des Landes an die Islamisten gefallen. Mit Pul-i Alam in der Provinz Logar haben die Taliban auch eine Provinzhauptstadt rund 70 Kilometer südlich von Kabul eingenommen.
Westliche Staaten beschleunigen derweil ihre Bemühungen, eigenes Personal und afghanische Ortskräfte vor den rasch vorrückenden Taliban in Sicherheit zu bringen. Das US-Außenministerium kündigte an, dass die dazu gedachte Verstärkung der US-Truppen in Afghanistan um rund 3000 Soldaten* bis Sonntag größtenteils in Kabul sein werde. Der britische Premier Boris Johnson sagte, Mitarbeiter der britischen Botschaft sollten Kabul binnen Tagen verlassen. Auch Deutschland will laut Außenminister Heiko Maas das Botschaftspersonal auf das „absolute Minimum“ reduzieren. Mit zwei Flugzeugen sollen Personal und auch Ortskräfte ausgeflogen werden.
Außerdem hat Bundeskanzlerin Angela Merkel* (CDU) mit einem Teil ihres Kabinetts das weitere Vorgehen in einer Krisensitzung über Telefon erörtert. „Es wurde beraten, wie mit Hilfe der Bundeswehr die schnellstmögliche Rückholung von Mitarbeitern der deutschen Botschaft und in Afghanistan tätiger deutscher Organisationen sowie von afghanischen Ortskräften gewährleistet werden kann“, teilte ein Regierungssprecher am Samstag auf Anfrage der dpa mit. „Eine Beteiligung des Deutschen Bundestags an einer solchen Entscheidung wird erfolgen“, versichert er.
Die Bundeswehr hat bereits mit Vorbereitungen für einen stark abgesicherten Einsatz zur Evakuierung von deutschen Staatsbürgern und Ortskräften aus Afghanistan begonnen. Dazu wird nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur ein vom Bundestag zu verabschiedendes Mandat vorbereitet. Zum Einsatz sollen in der kommenden Woche vor allem Fallschirmjäger der Division Schnelle Kräfte (DSK) kommen, die die Bundeswehr als Teil der Nationalen Risiko- und Krisenvorsorge für solche Aufgaben bereithält.
In Afghanistan sind derzeit noch deutlich mehr als 100 Deutsche, darunter auch die Diplomaten und Mitarbeiter der Botschaft in Kabul sowie Experten anderer Ministerien und Organisationen. Die genaue Zahl der Ortskräfte ist noch unklar. So haben allein Organisationen aus dem Geschäftsbereich des Bundesentwicklungsministeriums derzeit noch mehr als 1000 einheimische Mitarbeiter in Afghanistan. (dpa/afp/cibo/at) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.