„Armut erreicht Mitte der Gesellschaft“: Vesperkirche in Mannheim zieht Bilanz
Mannheim - Die Vesperkirche in der Citykirche Konkordien zieht zum Ende noch einmal Bilanz. Über 18.000 Essen wurden verteilt und manchmal gab es auch ein Wunder.
Update von 6. Februar, 11:11 Uhr: Die Mannheimer Vesperkirche für Bedürftige in der Citykirche Konkordien findet kommenden Sonntag, nach vier Wochen im Rahmen eines feierlichen Gottesdienstes mit Dekan Ralph Hartmann, ihr Ende. Die Verantwortlichen ziehen Bilanz und stellen fest, die über 18.000 ausgegebenen Essen in diesem Jahr stellen die Höchstzahl in der Geschichte der Vesperkirche dar.
Vesperkirche zieht Bilanz: „Menschen das geben, was sie benötigen“
Laut Dekan Ralph Hartmann sei diese Bilanz „nicht überraschend und mehr als zu erwarten gewesen“. Die Vesperkirche möchte die Menschen dazu ermutigen, auf ihr Recht auf Unterstützung zurückzugreifen, Mittel zu beantragen, sei es Wohngeld oder Grundsicherung – „Mutwillig Wunder wagen“ ist daher das Motto der diesjährigen Speisenhilfe.
Armut steige stark an und Armut erreiche leider auch die Mitte der Gesellschaft, so Dekan Ralph Hartmann. Die Geschichten, von denen Pfarrerin Ilka Sobottke erzählt, bestätigen das. Neben den vielen alten Menschen, ukrainischen Frauen und Kindern, Obdachlosen und Menschen aus dem osteuropäischen Raum, sei ein gutes 1/3 der Gäste psychisch erkrankt, sagt sie. Ob Kindheits- und Jugendtraumata durch Vergewaltigungen in oder außerhalb der Familie, oder auch durch den Verlust eines Angehörigen und Krankheit

Mannheimer Vesperkirche: Es geschehen auch Wunder
Wunder in der Vesperkirche gäbe es aber auch, wenn die Pfarrerin sieht, dass sie Menschen ermutigen kann. Eine Familie, Akademiker, zwei Kinder, sei in der Vesperkirche zu Besuch gewesen. Der Vater sei plötzlich arbeitslos geworden. Den Mut einen Antrag auf Mindestgrundsicherung zu stellen, habe er nicht. Das habe er noch nie gemacht. Zwei Wochen später sei er zurückgekommen und habe freudestrahlend erzählt, dass er nun doch Anträge gestellt habe.
Mit den steigenden Gästezahlen ist auch in diesem Jahr wieder die Sozialberatung des Diakonischen Werks vor Ort wieder in Anspruch genommen worden. Hier hören die Sozialarbeiter den Menschen zu und versuchen ihnen auf anderen Wegen zu helfen. Die Zahl engagierten Menschen, die bei der Vesperkirche mithelfen ist in diesem Jahr hoch: Spendenaufkommen sei in diesem Jahr hoch – über 1.000 Menschen haben für die Vesperkirche gespendet – über 180.000 Euro seien dabei zusammengekommen. „Das macht Mut“, sagt Dekan Ralph Hartmann. In diesem Jahr helfen rund 55 Ehrenamtliche jeden Tag, Essen auszuteilen.
Mannheimer Vesperkirche ist in der Halbzeit mit „traurigem Rekord“
Erstmeldung von 23. Januar, 10:46 Uhr: Alarmierende Halbzeitbilanz bei der wichtigen Mannheimer Vesperkirche für Bedürftige in der Citykirche Konkordien (8. bis 22. Januar) im Quadrat R2. Warum die warmherzigen Macher in einer Mitteilung von einem „traurigen Rekord“ sprechen.
Über 8.700 Gäste in Vesperkirche zur Halbzeit bedeuten „traurigen Rekord“
Über 8.700 Gäste besuchten seit dem Start am 8. Januar die Vesperkirche in Mannheim – macht durchschnittlich mehr als 600 Essen pro Tag. Dabei wird deutlich, dass die Anzahl der Essen im Kirchenraum stark überwiegt. „To-Go“ Essen werden nur noch zu ein Drittel bis weniger ausgegeben, im Durchschnitt etwa 166, insgesamt 2.491. Schon am Eröffnungstag war der Andrang in der Vesperkirche auffällig groß.
„Das sich der Hauptbetrieb wieder traditionell in der Kirche abspielt, macht Freude, ist natürlich auch platztechnisch wieder eine Herausforderung, aber wir kriegen das hin“, sagt Pfarrerin Anne Ressel. Dies entspräche eben auch dem eigentlichen Kern der Vesperkirche, Zusammensein und Gemeinschaft erleben.

„Ein trauriger Rekord“, sei es dennoch, betont Pfarrerin Ilka Sobottke, wenn man die Zahlen mit denen aus den Vorjahren vergleiche. Knapp 7.000 Essen waren es im letzten Jahr zur Halbzeit. „Es greifen mehr Menschen als sonst auf das Angebot zurück. Hinzu kommen die kalten Temperaturen.“ Den Höchstwert bildete der vergangene Dienstag (17. Januar) mit insgesamt 730 verteilten Essen. Aufgrund der starken Nachfrage musste das Küchenteam entsprechend improvisieren und Vorräte ausgeben.
Treiber Krieg, Inflation und Energiekrise verschärfen die Situation
Es werden von Tag zu Tag mehr: Waren es zu Beginn der Vesperkirche noch 430 Essen, die ausgegeben wurden, sind es durchschnittlich 600 Essen zur Halbzeit. „Es ist besorgniserregend, wie viele Menschen in die Vesperkirche kommen ‚müssen‘“, berichtet Pfarrerin Anne Ressel. Das soziale Klima entwickle sich in eine Richtung, die dramatisch sei, sich aus den Krisen der vergangenen Monate speise.
„Krieg, Inflation, Energiekrise und auch die Pandemie haben einfach ihre Spuren hinterlassen“, ergänzt Ilka Sobottke. Es seien eben nicht nur Obdachlose, sondern auch viele alte Menschen, psychisch Erkrankte, oder Menschen, die allein leben, nach Gemeinschaft suchen, oder im Bereich des Niedriglohnsektors arbeiten, und im Januar Geld sparen können.
Viele ukrainische Frauen und Kinder in Vesperkirche Mannheim
In diesem Jahr kommen auch viele ukrainische Frauen und deren Kinder in die Vesperkirche, außerdem Zuwanderer aus dem osteuropäischen Raum. „Für diese Menschen sind alltägliche Anschaffungen eine Herausforderung bei einer Preissteigerung von 40 Prozent im Bereich Lebensmittel“, erzählen die beiden Pfarrerinnen.
Das bestätigt auch eine Ehrenamtliche, die seit fünf Jahren bei der Vesperkirche arbeitet. Ein Mann erzählt ihr, 40 Jahre auf dem Bau gearbeitet zu haben. Im Januar gehe er immer gerne in die Vesperkirche, so könne er etwas sparen, für die kommenden Monate, weil die Rente sehr klein ausfällt.
Beratungsangebot wird angenommen – Grundsicherung erreicht Arme nicht
Wegen offener Gas- und Stromrechnungen, Widerspruchsverfahren oder auch Umgangsrecht zu den Kindern – die Problemlagen sind vielfältig, erzählt der Jurist Stefan Schliephake, der dieses Jahr im Bereich diakonischer Sozialberatung das Team unterstützt. „Die Beratung wird gut angenommen, auch von den Menschen, die sonst vielleicht nicht in die Beratung gekommen wären“, erzählt der 67-Jährige, der 20 Jahre im Mannheimer Arbeitslosenzentrum gearbeitet hat.
Das Mittagessen sei nach wie vor ein „Türöffner“, wenn es um die Probleme ginge. „Wir können den Menschen helfen, sie auf deren Rechte hinweisen.“ Viele der Rentner wissen oftmals nicht, dass sie ein Recht auf Grundsicherung haben.
Rentnerin Angelika (79) muss Putzen gehen, um über die Runden zu kommen
Angelika ist einer dieser Rentnerinnen. Vierzig Jahre habe sie in Teilzeit gearbeitet, sich der Kindeserziehung gewidmet, um zu pflegende Angehörige gekümmert. Ihre Rente betrage monatlich 800 Euro, reiche ihre aber natürlich bei weitem nicht für alle Ausgaben. Abzüglich der Mietkosten von knapp 400 Euro bleiben der 79-jährigen nicht mehr viel zum Leben.
„Ich verdiene mir noch etwas Taschengeld hinzu, indem ich putzen gehe“, erzählt sie Stefan Schliephake. Sie fragt nach, ob nicht Wohngeld unterstützend eine Möglichkeit wäre. Ein Antrag werde gestellt. Ob das Amt ihn aber bearbeiten kann, sei ein anderes Problem. Wegen Überlastung und personeller Engpässe in den Ämtern bleibe momentan vieles unbearbeitet, erzählen die Pfarrerinnen.
Vesperkirche in Mannheim – so kannst Du spenden
Die 26. Mannheimer Vesperkirche eröffnete am 8. Januar und endet am 5. Februar. Die durch Spenden finanzierte Vesperkirche wird getragen von der Evangelischen Kirche in Mannheim und ihrem Diakonischen Werk.
Spendenkonto:
- Evangelische Kirche Mannheim
- Sparkasse Rhein Neckar Nord
- IBAN: DE44 6705 0505 0039 0030 07
- BIC: MANSDE66XXX
- Stichwort: Vesperkirche.
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Weitere Infos zur Vesperkirche findest Du online unter www.vesperkirche-mannheim.de. (pek/ rah mit PM)