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Vom Missbrauch zur Prostitution: Tania über ihr Leben als Sex-Arbeiterin

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Von: Jasmin Boger

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Amalie- Beratungsstelle für Frauen in der Prostitution
Amalie- Beratungsstelle für Frauen in der Prostitution © MANNHEIM24/Jasmin Boger

Mannheim - „Mein erster Freier war der erste Mann, den ich freiwillig an mich rangelassen habe!“ Eine schockierende Aussage. Mitten in Mannheim lebt eine Frau, die Furchtbares erlebt hat – und dennoch stark ist.

Der Fall der 30-jährigen Tania* ist tragisch: Mit 12 Jahren kommt sie nach Deutschland zu ihrer Mutter, die hier bereits mit der Familie lebt. Voller Hoffnung, mit großen Erwartungen. Sie ist gespannt auf ihr neues Leben fernab der Heimat.

Aber der Alptraum beginnt schon wenige Wochen nach ihrer Ankunft. Sie wird misshandelt, über Jahre hinweg! Der Täter: der eigene Stiefopa! Ihre Mutter schaut weg: „Meine Mutter verschloss ihre Augen.“

„Auch in den besten Familien kommt das vor“, fügt die Sozialarbeiterin von der Beratungsstelle ‚Amalie‘ betroffen hinzu. Erst Jahre später mit 18 bringt sie den Vorfall zur Anzeige – ohne Erfolg, denn es gibt keine Beweise

Die "Visitenkarte" von Amalie. Mit nützlichen Dingen für Prostituierte
Die ‚Visitenkarte‘ von Amalie. Mit nützlichen Dingen für Prostituierte © MANNHEIM24/Jana Buch

Erst vor einigen Wochen hat Tania nochmals versucht, mit ihrer Mutter über die Vorfälle zu sprechen. Doch die winkt ab, sie solle stark sein, schließlich wäre auch sie dreimal vergewaltig worden. Dabei sei auch ihre Tochter entstanden. 

„Opfer kann ich sein, wenn ich zuhause bin“

Stark, das ist Tania auf alle Fälle. Man sieht ihr diese Schicksalsschläge nicht an. Sie sieht äußerst jung aus für ihr Alter, ihr Lachen ist ansteckend. „Opfer sein, das kann ich Zuhause, wenn ich alleine bin!“

Welch weitreichende Folgen so ein nicht verarbeitetes Trauma haben kann, zeigt sich in diesem Fall: „Mein erster Freier war der erste Mann, den ich freiwillig an mich rangelassen habe.“ Damals war Tania 18 Jahre alt. Durch eine Freundin kam sie nach Hamburg. Eigentlich, um Burlesque-Tänzerin zu werden. „Das ist so elegant“, schwärmt die 30-Jährige. Doch aus der Burlesque-Bar wurde ein FKK Sauna Club im Industriegebiet.

Das erste Mal mit einem Freier sei ihr leicht gefallen. „Ich dachte, mehr bin ich nicht wert.“ Es folgen Jahre der Prostitution und Anstellungen in Zeitarbeitsfirmen. Doch immer, wenn Tania gekündigt wurde, folgt wieder der Weg in die Prostitution – ein Teufelskreis.

Bei ,Amalie' findet sie endlich Halt

„Hattet ihr jemals dieses Gefühl, wenn euch ein riesiger Stein vom Herzen fällt?“, fragt uns Tania. „Das war mein Gefühl, als ich zu Amalie kam. Über die Jahre hatte ich niemanden, der mir einfach zuhört und die Klappe hält, aber dann traf ich Julia!“ 

Ihre braune Augen strahlen in Richtung Julia Wege, der Gründerin von ‚Amalie‘. Die beiden kennen sich schon seit drei Jahren. Das Vertrauen zwischen ihnen liegt spürbar in der Luft. Damals wurde Tania, wohnungslos, ohne Pass, mit einem Bein in der Prostitution, von Institution zu Institution gereicht – das Amt für Wohnungslosigkeit, die Ausländerbehörde oder doch das Frauenhaus. „Oft sind die Behörden überfordert,“ gesteht Wege. „Besonders bei so komplexen Fällen wie dem von Tania!“. Nach vier Jahren Behördenmarathon landet die hübsche Kubanerin schließlich bei Amalie, hier kann ihr geholfen werden.

Was ist ‚Amalie‘?

‚Amalie‘ ist eine Beratungsstelle für Prostituierte in der Mannheimer Neckarstadt-West. Unweit von der Lupinenstraße bietet sie hier Schutz und Beratung für Frauen, die in der Gesellschaft oft nicht ernstgenommen oder abgestempelt werden. 

Denn Prostitution ist noch immer ein gesellschaftliches Tabuthema, obwohl laut Expertenmeinung allein in Mannheim circa 500 bis 1.200 Frauen in diesem Gewerbe tätig sind. Die Dunkelziffer liegt weitaus höher.

Doch wie kommt Julia dazu, solch eine Anlaufstelle zu gründen? 

Als die Sozialarbeiterin im Rahmen ihres Studiums ein Praktikum im Bereich der Obdachlosigkeit absolviert, trifft sie eine Frau, die sich für 10 Euro an obdachlose Menschen verkauft. Dieses schockierende Erlebnis lässt sie nicht mehr los.

In ihrer Master-Thesis beschäftigt sie sich ausführlich mit dem Rotlichtmilieu und deckt gravierende Probleme auf: Den Frauen, die überwiegend aus Osteuropa stammen, fehle es an grundlegender Aufklärung, was Verhütung und Körperhygiene angehe. Die Folge: viele Schwangerschaftsabbrüche und Geschlechtskrankheiten!

Auszug aus dem Amalie-Handbuch
Auszug aus dem Amalie-Handbuch © Amalie

Julia erzählt von Frauen, die ihren Intimbereich mit Deo reinigen! Andere benutzen eine so genannte ‚Coladusche‘ als Verhütungsmittel. „Da muss doch gehandelt werden“, so die Sozialarbeiterin.

Von Beratungsstelle zum geschützten Wohlfühlort

Mittlerweile hat sich etwas getan: ‚Amalie‘ feiert in diesem Sommer ihr fünfjähriges Bestehen. Doch der Weg dahin war lang. „Alle haben gesagt, dass das nicht funktionieren wird“. Einzig ein Wohlfahrtsverband, die Diakonie, habe sich positiv zurückgemeldet. 

Doch bis zur Eröffnung dauert es Jahre. Bei der Planung der Beratungsstelle wird nichts dem Zufall überlassen. Die Wahl des Standorts, die Räumlichkeiten, das Logo, die ‚Visitenkarte‘ – all das sei entscheidend für den Erfolg der Organisation. Der Glücksgriff der Organisation: Noch vor der Eröffnung arbeitet eine Prostituierte ihre Sozialstunden bei Julia Wege ab. „Sie half uns tagsüber bei der Organisation, abends ging sie wieder ins Bordell und erzählte ihren Kolleginnen von uns!“

Doch ‚Amalie‘ ist nicht nur eine Beratungsstelle: Vor allem können die Frauen hier sein, wie sie möchten, ohne verurteilt zu werden! 

„Bei ‚Amalie‘ konnte ich Ruhe finden“

Auch für Tania ist ‚Amalie‘ eine wichtige Anlaufstelle: „Seit ich hier bin, konnte ich in mir Ruhe finden. Konnte viel, was in mir rumströmt, verarbeiten!“ Die gebürtige Kubanerin ist sehr dankbar, dass es eine Organisation wie ‚Amalie‘ gibt. Das möchte sie auch an die Frauen weitergeben, die die Beratungsstelle besuchen. 

Auszug aus dem Amalie-Handbuch
Auszug aus dem Amalie-Handbuch © Amalie

Wir können verstehen, dass sie sich hier wohlfühlt. Die Altbauwohnung, in unmittelbarer Nähe zum Neckar, ist gemütlich eingerichtet. Stühle in Magenta und Cyan, ein heller Dielenboden und graue Accessoires runden das Konzept ab. Man merkt sofort: Hier wurde mit viel Liebe zum Detail gearbeitet.

Als wir Tania fragen, ob sie sich noch prostituiert, antwortet sie: „Ich habe Momente, in denen ich das mache. Aber Gott sei Dank habe ich Freunde, für die ich putzen oder die Haare machen kann.“ Sozialleistungen wolle sie keine haben. „Damit ich irgendwann Probleme kriege und es wieder zurückzahlen muss?“ Diese zu erlangen, sei auch sehr schwierig, da der Fall der Kubanerin äußerst komplex sei, erklärt die Sozialarbeiterin.

„Jede Frau ist eine Hure“

Welche Auswirkungen das Erlebte auf ihre Einstellung hat, zeigt sich schnell: „Warum muss Sex gegen Geld einen Namen haben? Warum einen Stempel? Wenn eine Frau mit ihrem Ehemann schläft, nennt man sie ja auch nicht Hure. Das ist für mich auch Prostitution. Der einzige Unterschied: Wenn der Mann lieb ist, beschenkt er seine Frau. Beim Freier bekommt man dafür Geld. Sex ist dann Sex.“ Wir sind sprachlos. Was soll man bei einem so zynisch-gnadenlosen Statement auch entgegnen?

„Wenn Du mit Deinem Freund Streit hast, liebst Du ihn dann noch?“ Fragt sie ganz direkt. „Klar“, antworten wir. Stille. Tania sieht uns ungläubig an, ihre Augenbrauen bilden einen spitzen Bogen. „Also wenn ich Streit mit meinem Freund habe, dann bin ich sauer. Dann denke ich: du Arschloch! Dann will er Sex zur Besänftigung – und dann bums ich ihn halt ohne Lust!“

Es scheint, als hätte Tania eine vollkommen verdrehte Einstellung zum Thema Sex und Liebe. In ihren Augen scheinen Frauen nur Sexobjekte ohne Selbstbestimmung zu sein. Eine Ware, die nichts wert ist. Auf der anderen Seite präsentiert sie sich selbstbewusst und stark – eine Frau, die viel erlebt hat und sich doch nicht unterkriegen lässt.

Auszug aus dem Amalie-Handbuch
Notfall-Nummern im Amalie-Handbuch © Amalie

Gerne würden wir ihr sagen, dass die Welt ganz anders sein kann. Dass es Männer gibt, die Frauen schätzen. Dass es Mütter gibt, die alles tun würden, um ihr Kind zu beschützen. Doch wir sind uns sicher, das haben schon andere vor uns versucht. 

>>> „Im Job bin ich wie ein Roboter“: Die Geschichte einer Prostituierten aus Heidelberg!

*Name von der Redaktion geändert

jmb

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